Heimat im Wandel des digitalen Zeitalters.

Jahresabschlussrede 2018 – Im Nürtinger Gemeinderat

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Frau Bürgermeisterin,
sehr geehrter Herr technischer Beigeordneter,
sehr geehrte Damen und Herren des Gemeinderates und der Verwaltung, liebe Bürger.

Finde ich meine Heimat schön, so wie ich Orte im Urlaub schön finde? Und wenn ich meine Heimat nicht schön fände, was könnte ich ändern. Wegziehen? Mir überlegen was ich schön finde und herholen? Oder das schätzen zu lernen, was Heimat ist.

Man könnte meinen, in Nürtingen fehle es an Aufbruchsstimmung, als wären wir vor 30 Jahren eingeschlafen. Seinerzeit war Gründerzeit. Da wurde der Staub von den Dächern gefegt. Die Altstadt wachgeküsst. Restaurants eröffnet, Kleinkunst etabliert. Wo sind die Ideengeber und Nutzenstifter. Die Künstler, Maler, Kreativen. Im Süden leben „die Bruddler“ schreibt der aktuelle Glücksatlas der Deutschen Post. Platz 11 von 19 Regionen wird belegt. Berlin, Schwabens größte Exklave, rangiert auf Platz 16. Liebe Post: Bruddeln gehört zu unserer kulturellen Identität.

Ja, die Nürtinger neigen stets nach neuem zu streben, als das Erreichte wahrzunehmen. Genießen können wir Nürtinger noch lernen. Dafür jedoch ist unser Bewusstsein geschärft. Bewusst sein, dass es bei so viel Wohlstand ausreichend finanzielle Mittel geben müsste um Umwelt und soziale Dinge mehr zu berücksichtigen. Bewusst sein, dass der freie Markt allein kein Allheilmittel ist. Dass ungezügelter Markt sich selbst kannibalisiert und vernichtet.

Die Soziale Marktwirtschaft als „dritte Form“. Freie Marktwirtschaft mit den Vorzügen eines Sozialstaates. Gibt’s das noch in Europa? Wie gestalten wir den digitalen Wandel? All dieser Wandel wird vor Ort, in den Gemeinden sichtbar. Daher finde ich Kommunalpolitik spannend.

Danke an alle Menschen in Pflegeberufen. Danke an alle Paketdienstzusteller die in Selbstständigkeit dahindarben, in LKW‘s hausen, nur, dass ich versandkostenfrei bei Onlinemarktplätzen shoppen kann und damit auch unseren örtlichen Einzelhandel aushöhle. Bei 3 EUR Stundenlohn darf ich von Ausbeutung unter staatlicher Obhut sprechen. Der branchengrößte Paketzusteller DHL, Tochter der Deutschen Post die zu 21% dem Staat gehört, arbeitet mit solchen Subverträgen. Nebenbei speichert Mr. Datenkrake alle Informationen. Informationelle Selbstbestimmung, eher schwierig.

In der Stadt der guten Strickwaren im Texil Valley. Schließt nach 249 jähriger Geschichte das Kaufhaus Hauber 2018 seine Pforten. Eine Ära ging zu Ende. Die neue Dauerausstellung „Industriegeschichte“ eröffnet im Stadtmuseum.

Zum Glück noch nicht museumsreif ist unsere parlamentarische Demokratie. Diese lebt von der Debatte, dem Austausch von Argumenten. Ein Argument beginnt mit einer
These. Wird begründet und dann unterstützt durch ein Beispiel oder einen Beleg und endet mit einer Schlussfolgerung. Gegebenenfalls kommt eine Gegenthese und das Argument wird wiederlegt. Diese Diskussion muss für mich zwingend im Gemeinderat geführt werden. Formate wie Facebook taugen für die öffentliche Debatte recht wenig. Perspektivwechsel sind wichtig. Nürtingen am Neckar und die Parkbänke stehen mit Blick auf die Bundesstraße dort unten.

Liegt unser Blick auf dem für uns Wichtigen? Feste Gedenktage, wie beispielweise der Volkstrauertag, helfen zu erinnern.

Freie Rede, Gewaltenteilung, Schutz des Einzelnen, festgeschrieben im Grundgesetz. Diese Errungenschaften der deutschen Zivilisation sind für mich wichtig und sollten auch in der digitalen Welt gelten.

Machen wir einen Sprung zurück. 1918 – Sturz der Monarchie. Wir sind Republik. Fortan sollte die oberste Gewalt für eine bestimmte Zeit durch gewählte Personen ausgeführt werden. Personen die für diese Zeit ein öffentliches Amt begleiten. Im kommenden Jahr wählen wir. Einen neuen Oberbürgermeister, einen neuen Gemeinderat, ein neues Europaparlament. Jeder Bürger ist eingeladen sein eigenes Umfeld selbst mitzugestalten.

Nach 46 Jahren Kommunalpolitik wird sich Herr Heirich in den Unruhestand verabschieden. Ich stelle fest, das Nürtingen längst Heimat für Herrn Heirich geworden ist.

Ebenso vor 100 Jahren, Frauenwahlrecht, ab 1919 die erste Frau im Nürtinger Gemeinderat. Paula Planck die für ihre politische Überzeugung später gejagt wurde.

Zur selben Zeit kommt Oberensingen zu Nürtingen. Mit dem Bürgerausschuss. 2018 soll nach diesem Vorbild ein weiterer Bürgerausschuss, im Roßdorf, unserem jüngsten Stadtteil, aus der Traufe gehoben werden.

Ab `45 kamen Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die Einwohnerzahl im Zentrum des Pietkongs explodierte. Die Fremden brachten eine andere Religion, neue Bräuche und teils andere Kulturen mit. Im Januar vor 70 Jahren appellierte der Vertriebene, Reinelt Franz, Gemeinderat in Nürtingen, vor seinen Kollegen: „ Nach dem Gesetz steht uns wohl Gleichberechtigung zu, aber deren Durchführung ist ungenügend“ Wohnraummangel. Damals wie heute. Wir suchen nach dezentralen Lösungen in allen Teilen der Stadt und müssen zeitweise auch unter Hochspannungsleitungen Container hinstellen. zugleich handeln wir strategisch. Nach intensiver Diskussion wird 2018 eine städtische Wohnbaugesellschaft beschlossen. Die Siedlung Bergäcker entwickelt, Bürger am Projekt Bahnstadt beteiligt.

Eine starke Exekutive benötigt unser Rechtsstaat mehr denn je.

Beim Weihnachtsmarkt in der Altstadt wird die Stadt in ihrer ureigenen Daseinsberechtigung als Kommunikationsplattform genutzt. Viele schöne Events hatten wir in diesem Jahr. Maientag, Schön am Neckar Festival im Hölderlingarten, Orte, Worte,Töne, Musiknacht, 20 Jahre Mobil ohne Auto, Afrikafestival, uvm. Populärer wird die Sammlung Domnick. Studenten der HfWU präsentieren im Gemeinderat „Orte & Unorte“ mit einer Folie auf der geschrieben steht: “Alle sind für Ihr Wohlbefinden darauf angewiesen, Spuren zu hinterlassen, gesehen zu werden.“

„Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir weggehen.“ Im Alter von 53 Jahren verließ uns Frau Bürgermeisterin Claudia Grau nach schwerer Krankheit. Es handelt sich um authentische Personen, die unser Leben in ein Vorher und ein Nachher unterteilen, die wie eine erfrischende Brise in unser Leben kommen, und eine unauslöschliche Spur in unserer Erinnerung  hinterlassen, wenn sie gehen. Wir werden Ihr stets ein ehrendes Andenken bewahren Kunst, Kultur, Bildung waren Ihr wichtig.

Ein Hoch auf die Nürtinger Schule dichtete einst auch Mörike.
Der Kreis investiert 28 Mio. in den Neubau der Albert-Schäffle-Schule. 16,5 Mio. in den Ausbau der Bodelschwinghschule. Der Bildungscampus GARP entsteht für 8 Mio EUR. Im städtischen „Haus der Künste“ wird für 1,3 Mio EUR bald musiziert. Vom Land bekommen wir 2,7 Mio. für das Bildungszentrum Schlossberg mit dem Hölderlinhaus. Ein Schulentwicklungsplan wird erstellt werden. Auch ein Sportentwicklungsplan wird erstellt werden. Die intensive Diskussion über Kauf oder Miete einer Turnhalle wird damit auf neue Gleise gesetzt. Die neu gewählte Frau Bürgermeisterin Bürkner hat viel vor.

Ca. 60 Mio. EUR für Bildung. Das schmeckt doch nach Aufbruchsstimmung. Ein Hoch auf die Nürtinger Schule.

Ja wir haben Zukunftsprojeke! Dazu gehören auch die 3,7 Mio EUR für die Sanierung  des Schillerplatzes. Vielen Dank an Tiefbauamtsleiter Beck. Und vielen Dank an alle Amtsleiterinnen und Amtsleiter. Sie sind unsere Exekutive und leisten hervorragende Arbeit. Vielen Dank an alle Mitarbeiter*Innen der Stadt für Ihre unermüdliche Arbeit, die Sie in 2018 zum Wohle der Stadt ,deren Bürger und Kinder geleistet haben.

Kolleginnen und Kollegen des Gemeinderates. Vielen Dank, dass Sie sich ehrenamtlich für das Gemeinwohl, unsere Demokratie einsetzen. Dass Sie sich zur Wahl stellen, sich für Ihre Entscheidungen, welche Sie treffen, so einiges, auch im privaten, anhören. Behalten Sie Ihre Entscheidungsfreude bei. Ich habe großen Respekt vor jedem einzelnen Stadtrat und jeder einzelnen Stadträtin. Machen wir uns bewusst, dass auch wir für die Dauer der Amtszeit öffentliche Personen sind und uns zum Wohle der Stadt verpflichtet haben.

Dabei wünsche ich mir gewaltfreie Kommunikation. Das heißt, die eigenen Betrachtungen, Gefühle Bedürfnisse und Bitten klar zu formulieren, statt Vorwürfe zu machen. Gute Argumente wünsche ich mir. Perspektiven wechseln.

Uns allen wünsche ich besinnliche Weihnachtsfeiertage im Kreise unserer Liebsten. All jenen die beim Silvesterwiegen verhindert sein sollten wünsche ich im Namen des
Gemeinderates ein gesundes, glückerfülltes neues Jahr 2019. Gestalten wir unsere Heimat weiter, lassen sie uns fegen, wachküssen, renovieren und neues willkommen heißen. Genießen wir unsere Stadt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Im Gemeinderat, 18.12.2018
gez. Achim Maier